Vert-Vert

Vert-Vert – Sex, Drugs and  Rock’n’Roll

 

Wir befinden uns in einem französischen Internat für Mädchen. Ja, es ist eine Zwangsanstalt – hier werden die Töchter aus besserem Hause vor den Anfeindungen von Lust und Liebe weggeschlossen. Das aber kann Offenbach nun gar nicht leiden: Wenn die Lust, die Liebe, das Vergnügen, die schönen, intelligenten Frauen geknebelt werden.

Vert-Vert ist ein Stück der Revolte: sex, drugs and rock’n’roll auch für uns!! Ein Stück für Freunde der 68er Generaloffensive, der Beatniks, der Hippies. Hier zeigt sich wieder einmal grandios: Offenbachs Geschichten und Figuren sind herrlich ambivalent, großstädtisch, modern. (Wenn man da die Erzeugnisse einer Wiener Operette dagegenhält: mehlig, armselig, verklemmt und kleinkariert – die „Fledermaus“ mal ausgenommen...)

Nur kurz zur Handlung: Vert-Vert ist ein Papagei. Er kann sprechen und so einiges andere, was ein normaler Papagei nicht kann... Ihn haben sich die Mädchen aus Mangel an Alternativen als Lustobjekt, zum Spielzeug auserkoren. Zu dumm: Gleich in der ersten Szene nehmen wir an seiner grossangelegten Beerdigung teil – Vert-Vert ist tot! Ein neuer Vert-Vert muss her! Ihn finden die Mädchen in Valentin und küren ihn zum neuen Vert-Vert: Internat ohne Küssen und heimliches Gefummel geht gar nicht!

Valentin, ein guterzogener, idealistischer Junge muss jedoch auf die Reise heim zu einem familiären Todesfall. Diese Fahrt wird für Valentin eine Erweckung, eine Initiation: Er lernt in der Hafenstadt Nantes einen Truppe Matrosen kennen, die ihn in die Geheimnisse von Alkohol und käuflicher Liebe einführen. Es wird viel gefeiert.

Aber er lernt auch Corilla kennen: eine Sängerin, eine reife, erwachsene Frau – schön, geistreich, erotisch, witzig – eine weitere Figur aus der Sammlung Offenbachscher Idealfrauen, wie er sie eben toll fand. Sie hat erstens eine rasante Nummer über den Operngesang (eine Abrechnung mit der gehobenen Langeweile des Hochfeuilletons!) und dann wohl diverse mit dem jungen Valentin, den sie in die Liebe einführt – aber das sehen wir nicht, das ahnen wir nur.

Valentin Vert-Vert kehrt verwandelt und erotisch selbstbewusst ins Internat zurück: Er ist nun keine Spielzeug mehr für die Mädels, er entscheidet sich für die echte, grosse Liebe zu Mimi (eine weitere Figur aus der Offenbachschen Sammlung, Abteilung: grosses, echtes Herz!)

Die in der Erziehungsanstalt gefangenen Mädels werden von den Matrosen befreit, es kommt zu einem grossen Ensemble, einem erotischen Gefummel im Dunkel der Nacht, an dem die Partner nicht ganz sicher identifiziert werden können – an dem auch die Direktorin der Zwangsanstalt teilnimmt: sie hat eine heimliche Liaison mit dem Tanzlehrer Baladon...

Wie schön! Wie schön ambivalent!

Die Musik ist, was Cosi fann’ tutte für Mozart ist: ensemblegesättigt und sehr, sehr heiter!

 

Textbeispiel:

Couplets de la Garnison (Corilla)

 

Corilla

Egal, wovon die Stücke handeln

Im Fall des Falls sing ich Girlanden

Zum Beispiel so – und noch höher hinauf

Oder so – ja, ja, so geht es auch!

Was die Dichter Schönes auch dichten

Auf den Text kann man auch verzichten

Versteht man doch eh’ nicht ein Wort

Man versteht nicht ein Wort! Ah!

Man versteht nicht ein Wort!

 

Allegretto

 

Corilla

Ich zieh’ schon lange durch die Lande

Ja, von der Seine bis zur Loire

Und aus dem Nichts bin ich imstande

Und sing’ das ganze Repertoire!

Nun, wie die Kritiker es fanden?

Was int’ressiert das Publikum?

Es int’ressiert nur die Girlanden

Die Worte nur Brimborium! Tja, ja!

 

Vor Matrosen singe ich gern

Tanze ich gern, springe ich gern

Weil hier bei jedermann beliebt ist

Was Rhythmus und Musik ist

Denn ich weiss, bei jedem der Herr’n

Steht gute Kunst hoch in der Gunst

Ja, vor Matrosen sing ich gern,ah!, singe ich gern!

 

 

Ich war auf vielen grossen Bühnen

Die Bürger kennen sich gut aus!

Sie spenden dir nicht mit vollen Händen

Mit Fingerspitzen den Applaus!

Nein, es gefällt mir bei euch besser

Gefällt’s euch nicht, so pfeift ihr und schreit

Doch wie ihr weint und applaudiert

Wenn ihr gerührt und begeistert seid! Tja, ja!

 

 

Vor Matrosen singe ich gern

Tanze ich gern, springe ich gern

Weil hier bei jedermann beliebt ist

Was Rhythmus und Musik ist

Denn ich weiss, bei jedem der Herr’n

Steht gute Kunst hoch in der Gunst

Ja, vor Matrosen sing ich gern, ah!, singe ich gern!

 

 

Alle

Heute singt `ne famose, grosse

Chanteuse im „Papagei“

Und wir Jungs, wir wollen bloß `nen

Kleinen Kuss alle Mann

Und ein Autogramm!

 

 

Textbeispiel 2: Tanzunterricht

No. 14 B : Air de la Leçon des Danse

 

Andante maestoso

 

Baladon

Einst am Hof war à la mode

Ein Tanz namens „La Pavana“

Und man tanzte den Tanz bei Hof

Stets zu Ehren der Göttin Diana.

Hoch das Haupt

Der Schritt gravitätisch

Seitwärts der Säbel

Es wirkte edel und majestätisch.

 

Un peu moins vite, mai très peu

 

Baladon

Es folgte nun darauf das Menuett

So nach dem Essen gemess’nen Schrittes

Das geht auch für jeden, der nicht fit ist

Sein Ausdruck elegant, kokett

Das war das Menuett.

 

Allegro

 

Baladon

Ja, die gute alte Zeit

Ach, wär’s doch so noch heut’!

Doch nichts hält eine Ewigkeit!

Nun als modische Marotte

Fand man bei Hof die Gavotte.

 

Moderato

 

Baladon

Man war halt das Alte leid

Wollte etwas Fröhlichkeit

Trotzdem der Ton

Voll Distinktion!

 

LA GAVOTTE

 

Moins vite

 

Baladon

Doch sind wir lange nicht am Ende

Zuhause reicht’s ein’m nicht mehr

Und man reist, zieht in die Fremde

Und liebt sie sehr.

 

Zuerst kam die Sarabande

Man tanzte toll espagnol

Doch alle fanden hierzulande

Den Tanz zu schwer, mocht’ ihn nicht mehr

Also erfand man die Allemande,

die Allemande!

 

Moderato. Valse Allemande

 

Baladon

Doch nicht genug, man suchte, suchte

Es geht so wie eh und je:

Grad’ noch neu, schon demodé

Und man tanzt nun die verfluchte,

die verruchte Fricassée.

 

 

La Fricassee

 

Baladon

Das von heut’, ich sag’s euch gern

Tja, das find’ ich zu modern!

Kreuz und quer wirft man die Beine

Jeder tanzt für sich alleine

Alle wild im Kreis sich drehn!

Ja, man tanzt in dunklen Kellern

Von Geschmack ist nichts zu sehn!

Die Kostüme schlimmer, greller

Wie soll das nur weitergehn?

Alles wird nur immer schneller –

Nein, der Tanz von heute ist nicht schön!